11.07.2011

au!50 - Er las unter der Dusche

Er war ein komischer Typ. Er schrieb die Ränder der Bücher voll. Zum Glück habe ich ihm nie eins geliehen. Warum? Weil ich es nicht mag, wenn jemand in meine Bücher kritzelt. Und dann machte er noch etwas viel Verrückteres als Bücherränder vollschreiben. Es mag unglaublich klingen, aber er duschte mit einem Buch. Ehrenwort. Er las unter der Dusche. Woher ich das weiß? Ganz einfach. Alle seine Bücher waren von Feuchtigkeit aufgequollen. Am Anfang dachte ich, das komme vom Regen, U. war ein eingefleischter Fußgänger, nahm nur selten die Metro, ging kreuz un dquer durch ganz Paris, und wenn es regnete, war er völlig durchnäßt, denn er blieb nie stehen und wartete, bis der Regen aufhörte. Deshalb waren seine Bücher, jedenfalls die, die er meistens las, zerknittert und wie aus Pappe, und ich dachte, der Regen sei daran schuld. Aber eines Tages sah ich, wie er mit einem trockenen Buch ins Badezimmer ging und danach mit einem, das ganz feucht war, wieder herauskam. An jenem Tag siegte meine Neugier über meine Zurückhaltung. Ich ging und nahm ihm das Buch weg. Nicht nur der Umschlag war feucht, auch einige Seiten und sogar die Bemerkungen am rand, mit vom Wasser aufgelöster Tinte geschrieben, einige womöglich sogar unter fließendem Wasser, und ich sagte, mein Gott, ich kann's einfach nicht glauben, liest du etwa unter der Dusche? Bist du völlig durchgedreht? Er sagte, er könne nicht anders, und außerdem lese er nur Gedichte, eine Einschränkung, deren tiefere Gründe ich in jenem Moment nicht verstand, heute weiß ich, was er meinte, er wollte sagen, daß er nur drei oder vier Seiten lese und kein ganzes Buch, ...
(R.Bolano: "Die wilden Detektive")