25.09.2012

au!115 - schreiben und vernichten

"Von meinem Fensterchen aus sah ich Vögel, Bäume oder Zweige, die sich von unsichtbaren Orten her erstreckten, Gestrüpp, Sträucher, Wolken, Wände, aber keine Menschen, und ich hörte auch keine Geräusche, und dann verlor ich den Überblick über die Tage, die ich schon eingeschlossen verbracht hatte. Dann aß ich Toilettenpapier, vielleicht, weil mir die Erinnerung an Charlie Chaplin kam, aber nur ganz wenig, mehr konnte mein Magen nicht vertragen. Dann stellte ich fest, daß mein Hunger weg war. Dann warf ich das Toilettenpapier, auf das ich geschrieben hatte, ins Klo und zog die Spülung. Das Rauschen des Wassers ließ mich zusammenfahren, und mir fuhr durch den Kopf, jetzt bist du verloren. Ich dachte: Meine ganze Schlauheit und all die Opfer haben nichts genützt, ich bin verloren. Ich dachte: Welch ein poetischer Akt, das Geschriebene zu vernichten. Ich dachte: Ich hätte das Papier lieber herunterschlucken sollen; jetzt bin ich verloren. Ich dachte: Eitles Schreiben, eitle Zerstörung. Ich dachte: Weil ich schrieb, hielt ich durch. Ich dachte: Weil ich mein Geschriebenes vernichtet habe, werden sie mich finden, sie werden mich schlagen, mich vergewaltigen, mich töten. Ich dachte: Beides ist verwandt miteinander - schreiben und vernichten, sich verstecken und entdeckt werden. dann setzte ich mich wieder auf die Kloschüssel und schloß die Augen. Dann schlief ich ein. Dann erwachte ich."
(Bolano: Die wilden Detektive)