05.03.2011

au!17 - empfindsame art

Dies wurde nun eine Freundschaft gerade von der empfindsamen Art, wogegen Reiser eine Abhandlung zu schreiben im Begriff war.
Der junge Neries hatte wirklich ein gefühlvolles Herz, er ließ sich aber auch durch den Strom hinreißen und spielte bei jeder Gelegenheit den Empfinsamen, ohne es selbst zu wissen; [...] Nach und nach aber bildete sich bei ihm eine ordentliche Liebe und Anhänglichkeit an den jungen Neries, welche durch dessen wahre Freundschaft für Reisern immer vermehrt wurde, so dass sie sich immer mehr auch in ihren Torheiten einander näherten und von ihrer Melancholie und Empfinsamkeit sich wechselweise einander mitteilten.
Dies geschahe nun vorzüglich auf ihren einsamen Spaziergängen, wo sie nur gar zu oft zwischen sich und der Natur eine Szene veranstalteten, indem sie etwa bei Sonnenuntergang die Jünger von Emmaus aus dem Klopstock lasen oder an einem trüben Tage Zachariäs Schöpfung der Hölle usw. [...]
Hier saßen nun auch Neries und Reiser oft Stunden lang und lasen sich aus irgendeinem Dichter wechselweise vor; welches die meiste Zeit eine wahre Mühe und Arbeit und ein peinlicher Zustand für sie war, den sie sich aber einander nicht gestanden, um nur am Ende die Idee mit sich zu nehmen: "Wir haben am Steigerwalde freundschaftlich beieinander gesesssen, haben von da in das anmutsvolle Tal hinuntergeblickt und dabei unsern Geist mit einem schönen Werke der Dichtkunst genährt."
Wenn man erwägt, wie viele kleine Umstände sich ereignen müssen, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken, mit wie vielen kleinen Unannehmlichkeiten Neries und Reiser bei diesen empfindsamen Szenen kämpfen mussten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt verschlug usw.
Neries fand nun einen vorzüglichen Gefallen daran, Klopstocks Messiade Reisern ganz vorzulesen; bei der entsetzlichen Langeweile nun, die diese Lektüre beiden verursachte und die sich doch einander und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte Neries doch noch den Vorteil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit verging: Reiser aber war verdammt, zu hören und über das Gehörte entzückt zu sein, welches ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Leben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß, und welche ihm am meisten zurückschrecken würden, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen. ...
(K.P. Moritz: Anton Reiser)